Wer hätte gedacht, dass es im Jahr 2023 noch unbestiegene Wände im Hochgebirge des Berner Oberlandes gibt? Im goldenen Zeitalter des Alpinismus wurden die Gipfel der Alpen erstbestiegen. Später wurden alle Wände und Grate der grossen Berge zum ersten Mal von Menschen geklettert. Sei es die Erstbesteigung von Mont Blanc und Matterhorn oder die Erstdurchsteigung der Eigernordwand, immer sprach man vom „letzten Problem der Alpen“. Tatsächlich findet man im traditionellen Alpinismus auch heute noch Herausforderungen – jenseits von Speedrekorden und absurden Medienspektakeln. Ein gutes Beispiel ist die Westwand des Rottalhorns. Aus unerfindlichen Gründen blieb diese bis heute unberührt.
Vor 15 Jahren fiel mir die gut 1000 Meter hohe Westwand des Rottalhorns zum ersten Mal auf. Obwohl diese etwas versteckt im Rottal liegt, ist es die erste Felsbastion die ins Auge sticht, wenn man die Rottalhütte erreicht. Im August 2011 versuchte ich zusammen mit Matteo Della Bordella die Wand zu klettern. Ein aufziehendes Gewitter liess uns jedoch umdrehen. Nach vielen Expeditionen auf der ganzen Welt habe ich nun erkannt, dass Projekte vor der Haustüre genau so schön sein können wie exotische Reiseziele.
Mit Peter von Känel und Rolf Zurbrügg habe ich die perfekten Partner für diese Unternehmung an meiner Seite. Am 11. Oktober steigen wir zur Rottalhütte auf und am nächsten Tag geht steigen wir ein. Die ersten drei Stunden klettern wir im Licht der Stirnlampen auf dem Pfeilersystem im unteren Wandteil. Wir folgen keiner spezifischen Linie, die Schwierigkeiten sind - bis auf zwei Seillängen im Bereich 6a - im dritten bis fünften Schwierigkeitsgrad.
Mit dem ersten Tageslicht erreichen wir die graue Steilstufe, wo der Fels von Gneis zu Kalk wechselt. Zwei steile und anspruchsvolle Seillängen im Bereich 6b führen uns auf den grossen Pfeiler, welcher imposant auf das Gipfeldach führt. Von hier geht es wieder im Gneis weiter. Eine eindeutige Linie gibt es auch an diesem Pfeiler nicht. Wir folgen unsere Nase und wählen im Zweifelsfall die anspruchvollere Variante mit besserem Fels. Schneller als erwartet erreichen wir am frühen Nachmittag den Gipfel und gute 11 Stunden nach Aufbruch sind wir auf dem Jungfraujoch. Was für ein Kontrast, als wir nach der Ruhe und wilden Schönheit des Rottals umgeben von Werbebildschirmen und Selfiesticks zur Bahnstation gehen. Trotzdem sind wir
froh, dass wir die vielen Höhenmeter bequem mit der Bahn absteigen können.
Facts Rottalhorn Westwand Route „Herbstwanderung“
Wandhöhe 1050m, 6b, 12.10.2023 Silvan Schüpbach, Peter von Känel, Rolf Zurbrügg
Material: 50m Seile, Cams 0.2-3, 0.2-0.75 doppelt, 2 Peckers. Eisausrüstung für Abstieg Rottalsattel – Jungfraujoch. Die Erstbegeher hinterliessen einen Schlaghaken in einem Abseilquergang.
Zustieg: Von Stechelberg zur Rottalhütte und von der Hütte in 45min zum Einstieg
Quelle: Silvan Schüpbach
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