Vogelfrei - Schüsselkarspitze
Toureninfo
Topos
Standort / Karte
Tourenbeschreibung
Wunderschöne Tour durch den zentralen, steilsten Teil der Wand. In geschickter Linienführung schlängelt sich die Route auf dem Weg des geringsten Widerstandes durch die Wand.
Fast durchgehend perfekter Fels mit edler, technischer Wandkletterei.
Erstbegehung: Michi Wärthl, Tom Dauer und Chris Semmel 1997
Erste Rotpunktbegehung: Hans-Jörg Auer 2009 an zwei Tagen mit Biwak in der Wand
Erste Eintages-Rotpunkbegehung Dario Haselwarter mit Lorenz Angerer am 19.06.2025
2 x 60 m
1 Satz 0,3 bis 3 sinnvoll
Normale Alpinkletterausrüstung mit 1 Satz Cams 0,3-3 sinnvoll
Die Tour ist ausreichend mit Bohrhaken abgesichert. In den leichteren Passagen zum Teil etwas weitere Abständen, daher je nach Sicherheitsbedürfnis ein Satz Cams zu erwägen
Klassisch zur Schüsselkar-Südwand: entweder über Wangalm (bis hierhin mit MTB möglich) oder durchs Puittal.
2100 m
Abseilen über die Route mit Pendeln prinzipiell möglich.
Schöner ist aber wahrscheinlich der Ausstieg zum Gipfel und dann Abstieg über den Westgrat zur Wangscharte und zurück ins Tal (4-5 Std.) Details dazu siehe bei der Route Peters Haringer.
Des Wahnsinns fette Beute - Vogelfrei in der Schüsselkar-Südwand
Vogelfrei, das waren im späten Mittelalter jene armen Mitmenschen, die auf Grund irgendeines Vergehens mit Ächtung belegt wurden. Diesen Vogelfreien durfte kein Unterschlupf gewährt werden und es durfte ihnen straffrei Gewalt angetan werden.
In der neueren Zeit wandelte sich die Konnotation des Begriffes deutlich. Vogelfrei beschrieb nun den romantischen Begriff eines ungebundenen freien Naturmenschen, der sich jenseits aller einengenden Konventionen ungezwungen und frei entfalten konnte.
Welche der beiden Bedeutungen Michi Wärthl, Tom Dauer und Chris Semmel vor Augen hatten als sie 1997 ihre Erstbegehungen durch den steilsten Wandbereich des Schüsselkars „Vogelfrei“ nannten, können wir nur mutmaßen. Vermutlich fühlten sie sich aber eher von der zweiteren Interpretation angezogen.
Und wahrlich frei wie ein Vogel darf man sich fühlen, wenn man mehrere hundert Meter über dem Herzogpfeiler in der überhängenden Wand hängt und um einen herum und vor allem unter einem viel Luft ist.
Die Route Vogelfrei führt fast in Gipfelfalllinie durch den höchsten Teil der Schüsselkar-Südwand. Und während den Erstbegehern der stilreine freie Durchstieg knapp verwehrt blieb, konnte der unvergessene Hans-Jörg Auer 2009 gemeinsam mit seinem Bruder Vitus dieser Tour mit zwei Tagen in der Wand einen roten Punkt verpassen.
Seitdem wurde es ruhig um die Wand. Aber 2024 stand die erste Eintages-Rotpunktbegehung der Tour immer noch aus. Grund genug, für uns zwei Epigonen, uns an der wohl schönsten alpinen Wand in unserer unmittelbaren Umgebung zu versuchen.
Ein geeignetes Zeitfenster für einen Versuch an dieser Wand zu finden war gar nicht so einfach: Die Gipfelhöhe von fast 2600m erfordert, trotz der südseitigen Exposition, einiges an Zeit um den Schnee zum Schmelzen zu bringen, die Höhe der Wand setzt eine gewisse Tageslänge voraus. Darüber hinaus ist die Wand genau in diesem Bereich oft nass und eine gewisse sportliche wie mentale Fitness der Aspiranten sowie deren berufliche und familiäre Abkömmlichkeit schadet auch nicht. Viele Voraussetzungen, die hier geschickt miteinander arrangiert werden wollen. Aber genau so etwas macht ja letztlich den Reiz eines alpinistisch hochwertigen Unternehmens aus, oder etwa nicht…? Und vielleicht erklärt sich hieraus auch der Motivationsüberschuss eines unserer Windmühlenritter…
Ende August 2024 war es endlich soweit. Ein stabiles Hoch zeichnet sich ab und mit Martin Schidlowski war auch ein extrem starker und motivierter Partner am Start.
Um die Durchführung unserer Bergfahrt zu ermöglichen waren von uns beiden einige Unannehmlichkeiten in Kauf genommen worden. Ich hatte den fränkischen Familienurlaub und Schwiegerelternbesuch um zwei Tage für mich abgekürzt und war extra mit dem Zug von Nürnberg nach Innsbruck heim gereist.
Und Martin hatte am Vortag noch eine Watzmannüberschreitung zu führen, die sich wegen dezenter konditioneller Defizite der Gäste jedoch zu einer Unternehmung epischer Länge auswuchs und darin kulminierte, dass Martin erst um 22 Uhr abends vor unserer Unternehmung wieder in Innsbruck war.
Ich hatte die Tour bereits 2022 schon mal bis zur zwölften Seillänge probiert und 2023 hatte ich nach einer Begehung des Neoextremklassikers Friedenspfeife ein bisschen die oberste Cruxlänge ausgecheckt.
Diese zwei Berührungen mit der Tour waren, durch den nun doch schon etwas längeren zeitlichen Abstand, immer positiver von mir verklärt worden. So dass ich Martin im Zustieg ununterbrochen davon vorschwärmte wie gut ihm die zwei 8a-Längen liegen würden und dass er gute Chancen hätte, die Tour an einem Tag zu klettern. So mit einem gesunden Maß an Selbstüberschätzung ausgestattet kletterten wir los.
Die unteren Achterlängen, die keiner von uns kannte, kosteten uns gleich mal mehr Zeit als gedacht. Auf einen Verhauer folgten fiese Plattenstellen und Martin spürte den Tribut der länglichen Bergführerarbeit vom Vortag, die darin gegipfelt hatte, dass ihm seine Gäste nicht nur die Zeit, sondern auch noch die Brotzeit weggeknabbert hatten.
Auch wenn wir kein rekordverdächtiges Tempo an den Tag legten, so frästen wir uns anfangs noch recht solide durch den unteren Teil der Wand. In den Achterlängen musste etwas geknobelt werden, aber wir konnten sie onsight klettern. Die Neunerlänge welche in den zentralen Wandteil leitet, kannte ich von einer Begehung der Wersinführe im Vorjahr, und konnte sie retro-onsight klettern.
Aber als wir an der ersten 8a ankamen stockte die Vorwärtsbewegung unsere Seilschaft das erste Mal ernsthafter. Ich konnte mich nicht mehr an die beim letzten Mal vor zwei Jahren ausgeboulderte Lösung erinnern. Immer wieder brachen kleine Tritt- und Griffschuppen weg, so dass erst nach einer Stunde Herumbouldern eine brauchbare Sequenz gefunden war.
Diese passte dann aber auch und konnte im weiteren Verlauf gut in einen Rotpunktdurchstieg der 8a umgewandelt werden. Die nächste steile Querung im oberen achten Grad ging ohne Probleme. Aber bei der zweiten 8a zeigte die Wand nun wirklich ihre Zähne. Aus einem mir unerfindlichen Grund hatte ich diese Länge als soft und easy going abgespeichert. Nun konnte ich nicht ein Mal mehr die Einzelzüge klettern und hatte auch erst Mal keine Idee, wie diese gehen sollten.
Martin hatte an diesem Punkt bereits sämtliche Rotpunktambitionen über Bord geworfen und sich nur noch aufs Nachsteigen verlegt. Geduldig harrte er auf der abschüssigen Platte am Stand aus und sah mit einer Mischung aus Belustigung und wohlwollender Gleichgültigkeit zu, wie ich mehr oder weniger erfolgreich versuchte die kleinen, falsch rum angeordneten Kalkkäntchen in eine halbwegs sinnvolle Bewegungsreihenfolge zu bringen. Nach langem Herumbouldern hatte ich endlich eine brauchbare Lösung gefunden und unter großer Kraftanstrengung konnte ich die Länge durchsteigen. Der Durchstieg der Länge war aber extrem knapp gewesen und tief drinnen ahnte mein motorisches Gedächtnis schon, dass ein derart knapper Durchstieg den Maximalkraftspeicher wohl schon zu weit geleert haben dürfte.
Aber mein ehrgeizgetriebener alpiner Dickkopf wollte dies noch nicht wahrhaben. Und so nahm ich trotz deutlich vorgerückter Uhrzeit den langen Quergang hinüber zur Cruxlänge in Angriff. Die 8- löste sich gut auf. Aber die 7+ schenkte mir ordentlich ein. Weite Hakenabstände, brüchig-sandig Zonen garniert mit wackligen Plattenaufstehern.
Als ich am Stand der letzten schweren Länge ankam fühlte ich mich mehr als bedient. Unter normalen Umständen wäre nicht an ein Weiterprobieren zu denken gewesen und auch jetzt beschlich mich kurz ein komisches Gefühl, als ich daran dachte, dass ich nun um halb acht Uhr Abends in vierhundert Metern Höhe beginnen würden die bouldrige Schlüsselstelle einer Zehnerlänge zu probieren. Der Rest Verstand der mich zum Weiterklettern in Richtung Gipfel ermahnte, wurde aber von meinem Rotpunktwillen überstimmt. So verkündete ich Martin, der sich gerade damit beschäftigte einen drohenden 15m-Abgang in dem fallendem Quergang zum Stand hin abzuwenden, dass ich nur schnell noch einen Versuch machen wolle.
Martin sah mich mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Entgeisterung an. Als ich seine Verschnaufpause am vorletzten Bolt auch noch dazu nutzte einem nur allzu menschlichen Bedürfnis nachzukommen und ein brauner Klecks nur knapp seine nigelnagelneuen Halbseile verfehlte, konnte ich förmlich sehen wie das letzte bisschen Glauben an meine Vernunft aus seinem resignierten Gesicht wich.
Am Stand angekommen erklärte sich Martin aber bereit mich für eine Bouldersession in der Cruxpassage noch zu sichern. Wie ein halbwegs nüchterner Freund der seinem betrunkenen Zechgenossen wider besseren Wissens zur Seite steht, auch wenn dieser Anstalten macht, sich grundlos in eine aussichtslose Kneipenschlägerei zu verzetteln.
Nach kurzem Wiederauffrischen der Züge, pfefferte ich gleich einen Go rein und siehe da, ich konnte das große flache Loch gleich auf Anhieb halten. Das war zwar noch ein gutes Stück vom Durchstieg entfernt, aber viel besser als erwartet. Also kurz noch die Griffe geputzt, zwei Ticks hinzugefügt, runter zum Stand und nach fünf Minuten das Ganze von vorn. Nun gings sogar noch weiter. Erst kurz vor dem entscheidenden Einfingerlochstecker kam der Durchstieg ins Halten.
Spätestens jetzt hätte Schluss sein müssen, denn der letzte Durchstiegsversuch hatte definitiv alle Maximalkraftspeicher ratzeputz leer gefegt. Aber wir waren so kurz vor dem großen Ziel, dass es mir in meiner Verblendung nicht möglich war das unausweichliche Scheitern zu akzeptieren. Noch mehrere Versuche folgten und erst als die Haut an diversen Cuts zu bluten anfing und nicht ein mal mehr die Einzelzüge vernünftig gingen, verließ die Rotpunkttollheit meinen Körper.
Mit dem Nachlassen des felsigen Sirenengesangs gelang es der Ratio wieder die Oberhand im Oberstübchen zu übernehmen. Dies sorgt in Kombination mit der Dunkelheit und Kühle der einsetzenden Hochgebirgsnacht für ein Gefühl der Ausnüchterung.
Mit dem allerletzten Licht erreichte ich den Stand oberhalb der schweren Länge. Hier wechselten wir das Schuhwerk und krabbelten im Schein unserer Stirnlampen die letzten drei Seillängen im dritten und vierten Grad zum Gipfel hinauf. Dort oben umfing uns schwarze Nacht während weit im Osten ein flackerndes Wetterleuchten zu sehen war. Die Idee im Dunkeln noch über den Westgrat abzusteigen wurde, nach dem sich unsere Gefahreneinschätzungsvermögen wieder angenähert hatten, rasch verworfen. Und so krochen wir wie zwei nasse Hunde in die Biwakschachtel.
Im zittrigen Schein eines Kerzenstummels blickte mich Martin mitleidig-besorgt an, wie ein Psychiater seinen Patienten betrachtet, und meinte: „Als der liebe Gott den Masochismus verteilte hat er es wohl etwas zu gut mit dir gemeint…“ Schon halb im Schlaf versinkend fiel mir außer einem entschuldigenden Lächeln nichts mehr ein.
Am nächsten Tag weckte uns die strahlende Sonne. Um sechs Uhr begannen wir den Abstieg, um kurz nach acht Uhr schwangen wir uns auf unsere Räder bei der Wangalm und als wir um neun Uhr unser Abenteuer bei Kaffee und Kuchen im Cafe in Leutasch ausklingen ließen erschien uns das ganz schon fast wieder wie ein ferner Traum.
Ein knappes Jahr später im Juni 2025 konnte ich gemeinsam mit Lorenz Angerer die ganze Tour an einem Tag Rotpunkt klettern. Diese Begehung verlief dank der Erfahrungen vom Vorjahr um einiges reibungsloser. Als wir uns bei Helligkeit am Gipfel umarmten schloss sich ein wunderschönes Kapitel meiner persönlichen Schüsselkargeschichte.
Die Begehung der Tour bedeutet mir in mehrerlei Hinsicht viel. Auf der einen Seite war die Schüsselkarsüdwand eine der ersten Wände an denen ich vor über zwanzig Jahren mit dem Alpinklettern anfing, damals über das Seilende hinausseilte und mit viel Glück durch einen Sturz in ein weiches Altschneefeld unverletzt überlebte.
Auf der anderen Seite ist es ein schönes Gefühl zu allen drei Erstbegehern einen persönlichen Bezug zu haben.
Chris Semmel war einer unserer Ausbilder in der Bergführerausbildung.
Tom Dauer hat durch seine Geschichten und Biographien meine Sicht und Einstellung zum Bergsteigen mit geprägt.
Und Michi Wärthl war vor vielen Jahren einer unserer Trainer im DAV-Expedkader und einer unserer Bergführerausbilder zu dem wir aufgeblickt haben. Als Michi mir damals auf einem Bergführerlehrgang sagte, er könne mir nun nichts mehr beim alpinen Klettern beibringen, bedeutete mir das mehr als mein kürzlich absolviertes erstes Staatsexamen.
Mit der Begehung hat sich ein wunderschöner Kreis für mich geschlossen. Es ist wie ein Destillat aus den Dingen die mir mittlerweile am Bergsteigen am wichtigsten geworden sind: das Erleben von Freundschaft, Einsamkeit, geringe objektive Gefahren, Verzicht auf Fernreisen und eine gute Geschichte.
Vielen Dank an meine Freunde Anton Gietl, Martin Schidlowski, Christoph Schranz und Lorenz Angerer, die das Abenteuer Vogelfrei mit mir geteilt haben sowie an Michi Wärthl, Tom Dauer und Chris Semmel die schon 1997 die Vision zu dieser grandiosen Route hatten.
Und in Erinnerung an Hans-Jörg Auer. Mögest du frei wie ein Vogel sein…
19.06.2025
Ausgangspunkt / Anfahrt
Puittal: Aus Richtung Innsbruck kommend auf der A12 Inntalautobahn zur Ausfahrt Seefeld/Garmisch und über Seefeld nach Leutasch/Weidach. Weiter zum Ortsteil Gasse und Richtung Mittenwald zum Ortsteil Puitbach. Kletterparkplatz.
Scharnitztal: A13 über Innsbruck zur Ausfahrt Zirl-Ost, weiter über den Zirler Berg und Seefeld nach Leutasch (Ortsteil Klamm). Von dort auf der alten Mautstraße ins Gaistal bis zum P2 („Stupfer) - Parkgebühr.
Öffis: MIt der Bahn von Innsbruck nach Seefeld; von dort mit dem Bus weiter.
Leutasch - 1100 m
Leutasch, Parkplatz Chinamauer oder Gaistal (P2 Stupfer) - 1136 m



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